Geht Lützerath auch anders?
Menschen sind Gewohnheitstiere. Zu Aktivist:innen passt das eher nicht. Oder? Wir
Aktivist:innen sind doch auch Menschen. Auch wir wiederholen Vorgehensweisen. Mal, weil
sie sich bewährt haben und gut funktionieren. Mal, weil wir keinen anderen Weg sehen. Vor
allem in Stresssituationen kommt uns vielleicht alles ausweglos vor. Und dann greifen wir
darauf zurück, was Menschen vor uns gemacht haben.
Menschen in Lützerath greifen darauf zurück, was zum Beispiel im Danni oder im Hambi
gemacht wurde. Häuser, Bäume, Straßen besetzen, das ganze Dorf verteidigen mit dem
eigenen Körper. An Silvester hört mensch überall in Lützerath Aussagen wie „Es wird
emotional, es wird eskalieren, schlimmer als im Hambi.“. Ja, es wird ein Kampf werden. Und
das soll es auch, oder? Es scheint wie ein Wettrüsten. Auf der einen Seite Aktivist:innen, die
sich gewaltfrei widersetzen möchten. Auf der anderen Seite Polizist:innen, die auch mal zu
gewalttätigen Mitteln greifen. Aber wir wissen doch, was dabei herauskommt. Wochenlanger
Stress auf beiden Seiten. Ausbrechende Emotionen, körperlich und seelisch verletzte
Menschen. Ja, es kann ein Zeichen setzen. Ich verstehe die Motivation der Aktivist:innen vor
Ort. Aufgeben ist keine Option. Das Dorf soll verteidigt und die Räumung soll möglichst lange
hinausgezögert werden. Menschen verlieren in diesen Tagen ihr Zuhause, das sie dort und
zuvor vielleicht nirgendwo anders gefunden haben. Die Aktivist:innen haben verstanden, was
es für die Zukunft bedeutet, wenn RWE weiter Kohle fördert, sind jeden Tag damit
konfrontiert und sehen, dass auf politischer Ebene nichts passiert. All das löst Emotionen aus.
Wut, Trauer, Angst, Verzweiflung. Solche Emotionen können in dieser Art des Widerstandes,
wie er jetzt in Lützerath zu sehen ist, ausbrechen und ausgelebt werden. Die Wut steckt in
den angespitzten Pfählen rund um Phantasialand, einer besetzten Wiese in Lützerath. Die
Angst steckt in all den Barrikaden auf den Straßen. Die Trauer und die Verzweiflung kann
mensch überall auf den Bannern, Baumhäusern und den Gesichtern der Menschen sehen.
Und auch Polizist:innen sind keine emotionslosen Wesen. Polizist:innen sind Menschen, die
die gleichen Emotionen haben wie Aktivist:innen. Wut entsteht, wenn sie beleidigt werden,
wenn ihr Beruf nicht wertgeschätzt wird. Eine große Masse an weiß gekleideten und
vermummten Menschen macht Angst.
Ich möchte hiermit nicht das Polizeisystem verteidigen. Da gibt es Einiges zu tun. Und auch
einzelne Polizist:innen reagieren unverhältnismäßig, Entscheidungen von Einsatzleiter:innen
scheinen oft nach der Stimmung der Person gefällt zu werden. Ich würde mir wünschen, dass
zumindest 100 der angerückten Polizist:innen in Lützerath sich dem Befehl widersetzen
würden. Wo ist die „Police for Future“?
Ich möchte mit diesem Kommentar vor allem Fragen stellen. Der größten Mehrheit der
Menschen, die jetzt in Lützerath sind, würde ich unterstellen, dass sie keine Eskalation
wollen. Dass sie Angst haben vor dem was passiert, sich jedoch in einer ausweglosen
Situation gefangen sehen. Aber ist sie wirklich so aussichtslos? Was ich mir von den
Polizist:innen wünsche, habe ich bereits gesagt. Ich weiß, es ist jetzt etwas zu spät, aber
warum denken wir nicht mal über neue, vielleicht noch kreativere und deeskalierende Arten
des Widerstandes nach? Widerstand, der bei den Polizist:innen und Menschen, die nicht in
der Umweltbewegung sind, andere Emotionen als Wut und Angst auslösen. Widerstand, der
es den Polizist:innen möglichst unangenehm macht, ihre Befehle auszuführen. Und der nicht
durch Provokationen von einzelnen Aktivist:innen, die für diese durch das Verhalten einzelner

Polizist*innen in den vergangenen Jahren legitimiert wird, harte Repressionen und
möglicherweise Gewalt aus Sicht der Polizist:innen rechtfertigt. Das ist ein Teufelskreis.
Warum stellen wir uns nicht mit tausenden Menschen an die Zufahrtswege der Polizist:innen
und stehen Spalier, wenn diese in Lützerath einmarschieren? Schweigend, mit Schildern, auf
denen „Warum?“ oder „Reih dich ein.“ steht, unsere wahren Emotionen zeigend, die hinter
der Wut versteckt werden. Uns entwaffnend ängstlich zeigen. Das ist nicht einfach. Für viele
Menschen würde sich das anfühlen wie aufgeben. Und ich kann das nachvollziehen. Aber wir
würden eindrücklich und gewaltfrei unseren Protest zeigen, weniger Menschen würden
körperlich oder seelisch verletzt und mehr Menschen könnten danach weitermachen mit
ihrem Engagement. Geräumt und zerstört wird Lützerath so oder so, das ist den meisten
Menschen bereits jetzt bewusst.
Es ist jetzt zu spät. Jetzt wird es in Lützerath wieder so laufen wie im Hambi oder im Danni.
Ich hoffe für alle Menschen, die dort sind, dass sie mit möglichst wenig Verletzung aus der
Situation wieder herauskommen. Und ich wünsche mir, dass wir uns, wenn das alles vorbei
ist, als Aktivist:innen zusammensetzen, die letzten Monate und auch die Jahre im Danni,
Hambi und an anderen Orten des zivilen Widerstandes evaluieren. Dass wir uns öffnen für
neue Ideen, unsere Emotionen entdecken, die hinter der Wut stecken und uns in Zukunft
deeskalierender widersetzen.